Samstag, 5. Januar 2013

Die Schlange in der Schublade - Blog von Kiat Gorina


"Huuuuuu ...", so schallte es immer wieder durch den herbstlichen Garten. Ich ließ Hacke und Unkrauteimer fallen und raste los. Das  Geheul nahm kein Ende, etwas Schreckliches musste passiert sein! 

Da, was war denn das? Da hing Muttern verzweifelt am Birnbaum und versuchte vergebens, hinaufzuklettern. Irgendwer oder - was musste sie zu Tode erschreckt haben, so leichenblass war sie. 

Aber was? Aus Muttern war außer "Huuuu!" und "Da! Da hinten! Siehst du sie denn nicht!" herauszubekommen.

"Wen denn nur? Ist Tante Lenchen zu Besuch gekommen? Die ist doch lieb, die tut dir doch nichts ...", versuchte ich - allerdings vergebens - Muttern zu beruhigen. 

"Nein, daaaa ..." schrillte es weiter. So schaute ich mich überall genau um, auch hinter dem Komposthaufen,  der Haselhecke und am Bachufer. 

Aha, da lag etwas. Eine Sense. Und ein Stückchen weiter, neben einem zersensten Laubhaufen - da lag eine Ringelnatter. Ganz schlaff und reglos, mit einem langen Schnitt über ihren schönen 
bläulich glänzenden Leib. 

Ob die arme Natter Muttern so erschreckt hatte? Um diese brauchte ich mich nicht mehr zu kümmern. Eine Nachbarin, Tante Lieselotte, hatte das Geheul auch gehört und war eilends herüber gekommen. Resolut ging sie daran, Muttern vom Baum zu pflücken und zu beruhigen. 

Und ich kümmerte mich um die arme Schlange. Aus dem Schnitt quoll  eine gräulich-bläuliche Flüssigkeit, das arme Tier blutete. So, was nun? Vorsichtig brachte ich die Natter ins Haus in mein Zimmer. Sie regte sich nur ganz wenig, es war schon recht kalt, dazu der Schock. 

Schnell mopste ich aus Mutterns üppig ausgestattetem Verbandkasten Mullbinden und Leukoplast. Mit dem Verarzten von Schlangen hatte ich keinerlei Erfahrung, und fragen konnte ich auch niemanden. So wischte ich Ringel vorsichtig sauber, wickelte eine Mullbinde um ihren Leib und klebte es locker mit Leukoplast fest. 

So, und wohin jetzt mit Ringel? Nach draußen konnte ich sie nicht setzen, wer weiß, wer sie da draußen finden und womöglich auffressen würde. 

Ratlos sah ich mich in meinem Zimmer um. Außer dem Bett gab es da nur noch den Kleiderschrank und ein kleines Regal. Nicht das ideale Versteck für eine kranke Schlange. 

Halt mal, der Schreibtisch! Der hatte immerhin vier Schubladen, in denen ich meine sonstige Habe verstaut hatte. 

Ich leerte die Schublade mit den Schulheften- und Büchern aus, holte Zeitungspapier und etwas Grasabfall und Laub. Damit polsterte ich die Schublade aus und legte Ringel hinein. Dazu noch eine flache Schale Wasser und Mehlwürmer (die gab es für ein paar Pfennige beim Zoohändler). 

So, da war Ringel gut aufgehoben und der Schnitt würde in Ruhe heilen. Dachte ich. Drei Tage lang ging alles gut. Der Schlange ging es schon besser. Offenbar hatte sie sogar schon von den 
Mehlwürmern gegessen. 

Aber dann! Ich hatte ganz Mutterns Aufräumfimmel vergessen.Mit schönster Regelmäßigkeit stürmte sie mein Zimmer, riss die vollgestopften Schreibtischschubladen auf und kippte den Inhalt auf den Boden. Dann schrillte sie los: "Adolf! Komm und schau dir diesen Saustall an! Noch nicht einmal aufräumen kann dieses missratene Luder!" 

Dabei trampelte Muttern wild auf den Sachen herum. Dabei hauchte Zerbrechliches natürlich sein Leben aus. Auch mein Schulfüller fiel ihr zum Opfer. 

Dann gab es den üblichen Ärger, der für mich jedesmal mit einer Reihe blauer Flecken endete. 

Und diesmal? Mit viel Krach und Gezeter landete der Inhalt der drei ersten Schubladen am Boden. Dann kam Ringels Behausung dran ... 

Ahnungsvoll stand ich in der Tür. Wenn das nur gutging! Die arme Schlange! 

Krachbumm -"Haaaah - oh - mein Herz -huuuuh - Adolf! Adolf! Das Luder will mich umbringen! Mit einer Giftschlange! Schnell, ruf die Polizei!" 

"Muttern? Hast du nicht was vergessen?" Ich war stocksauer! Sie konnte sich gar nicht so erschrocken haben. Einmal fehlten die vielen "Huuuhs", und für einen ihrer üblichen Herzanfälle kreischte sie viel zu laut und viel zu lange. Einem Menschen mit Herzprobllemen bleibt bekanntlich die Luft weg, und dann kann man nicht schreien. 

Trotz Herzanfall raste Muttern mit beachtlichem Tempo nach unten, wo sie Vatern lautstark mein Giftattentat schilderte. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie ja einen Herzanfall hatte. Und das Gekreische wandelte sich zu halb geschluchzten Huu-huu-hhuus und regelmäßig eingebautem Röcheln. 

Gut, so hatte ich Zeit, nach Ringel zu suchen. Hinten unter dem Kleiderschrank wurde ich fündig, angelte meine etwa 60 Zentimeter lange Patientin hervor und stopfte sie in meine Bluse. Mit meinem schlangenartig ausgewölbten Kleidungsstück kam ich unentdeckt in den Garten, wo ich Ringel den Verband abzog. Der Schnitt war gut verheilt, und Ringel schlängelte sich gewandt davon, um sich für den Winterschlaf irgendwo einzuringeln. 

Und ich trollte mich ins Haus, mir ahnte schon, was mir da blühte. Genau, das hatte ich erwartet. Vatern zog seinen Schuh aus, um damit auf mir herum zu trommeln. Und Muttern holte wie üblich ihren riesigen Kochlöffel, den sie sehr geübt einsetzte. 

Autsch, dieser doppelte Trommelwirbel tat ganz schön weh, meine Nase tropfte wieder mal wie ein roter Wasserhahn, und dann ... Ja, plötzlich endete das Trommelkonzert. Die beiden hatten sich gegenseitig mit ihrer Bewaffnung auf die Pfoten gedroschen ...


Hochgeladen von wwwwirSiegende am 13.05.2011

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