Dienstag, 1. Januar 2013

Silvester - Just the Same Horror as every Year - Blog von Kiat Gorina


Tja, Silvester. Das ist auch so ein Tag, an den ich mich nur mit leisem Schaudern erinnere. 

Ich war bei meinen "Eltern", weil meine Studienkollegen über die Feiertage alle nach Haus gefahren waren. So konnte ich den wirklich jedes Jahr genau gleichen Tag in vollen Zügen "genießen". 

Nach dem Mittagessen verschwand Vatern für einige Stunden in den Keller, um seine Neujahrskanone zu laden. Das war ein zehn Zentimeter dickes , etwa 40 cm langes massives Eisenrohr. Das hatte er unten zugeschweißt und seitlich ein kleines Zündloch hineingebohrt.  Da hinein füllte er Schwarzpulver und stopfte es gewissenhaft mit seinem  Ladestock fest. 

Den hatte Vatern eigens dafür konstruiert und dann auf seiner Drehbank hergestellt. Allein die Konstruktionszeichnung hielt Mutterns ganzen Haushalt tagelang auf. Weil Vatern dafür sein riesiges technisches Zeichenbrett mitten in der großen Diele aufgebaut hatte. Die war zwar geräumig, aber so ein großes Zeichenbrett ist doch recht sperrig. Wer nun ins Haus kam, oder in den Keller oder in die Küche wollte, musste sich an dem Ding irgendwie vorbei zwängen. Er hatte das Teil so strategisch günstig aufgebaut, dass es den Durchgang in alle Richtungen bestens versperrte.  Vatern war sehr penibel und korrekt, was die technischen Dinge anging. Und deshalb stand das Ding, und stand ... und stand. Bis Muttern den Aufbau beim Putzen versehentlich zum Einsturz brachte. 

In Tränen aufgelöst stand sie vor der Misere. “Um Himmels Willen, was machen wir jetzt nur ... Adolf wird durchdrehen, wenn er das sieht …” 

“Hm, und dich wieder schlagen …”, konnte ich mir nicht verkneifen zu knurren. Dass Muttern öfter so merkwürdige Verletzungen im Gesicht, den Unterarmen und auf dem Rücken hatte, war mir schon öfter aufgefallen. Mutterns Antwort auf meine Fragen war stets die gleiche : “Ich bin hingefallen, im Keller. Außerdem schlägt Papa mich nicht, er weist mich nur zurecht …” 

Das sah ich anders, aber Muttern war schon zitterig genug. So schleppte ich das Zeichenbrett und die sonstigen Zeichenutensilien nach oben in sein Arbeitszimmer, wo ich diesen ganzen “Altar” wieder aufbaute. 

Das Feststopfen des Schwarzpulvers artete jedesmal in eine Zeremonie aus. Dazu setzte Vatern seinen alten Wehrmachtshelm auf, schlug die Hacken zusammen und stand vor seiner Kanone stramm. Schließlich war er im Krieg Oberfeuerwerker, da wusste er, was sich gehörte. 

Auf das Schwarzpulver kippte er mehrere selbst gegossene Bleikugeln. Darüber wurden  noch alte Lumpen als Schusspflaster zur Abdichtung gestopft. Fertig war die heilige Neujahrskanone. 

Aber auch die Bleikugeln hatten eine kleine Vorgeschichte. Muttern war immer sehr stolz auf ihre akkurat und glatt aufgehängten Gardinen. Das änderte sich nach den Weihnachtstagen. Da sahen die Gardinen irgendwie so “windig”  und flatterig aus. Wie das wohl kam? 

Ganz einfach, Vatern brauchte ja Rohmaterial, um seine Bleikugeln zu gießen. So entwendete er kurzerhand die Bleistrippen, die man zwecks Gewicht unten in die Gardinensäume zog ...

Oben fabriziert Muttern derweil das abendliche "Festmahl", wenn man es denn so nennen will. Dazu produzierte sie, wie jedes Jahr, ihren guten Heringssalat. Der bestand hauptsächlich aus muffig-erdig schmeckenden rote Bete, deren Saft und Kartoffeln. Mayonnaise, Zwiebeln, Gurke oder Geschmack glänzten durch Abwesenheit. Irgendwie erinnerte mich dieses rötliche  etwas trockene Zeugs an Krankenhaus-Schonkost. Obwohl, einmal wurde im Heringssalat ein mit bloßem Auge sichtbares Stück Bismarckhering gesichtet.  Von einem Ehepaar, das mit uns Silvester feiern wollte. 

Komisch nur, dass der Mann mitten beim Essen zu seiner Frau sagte: "Wir müssen nach Haus fahren, ich habe vergessen, Bella in den Keller zu bringen." Und zu uns: "Sie hat Angst vor Krachern, da macht sie die ganze Wohnung voll." 

"Bella ist unser Hund", setzte die Frau hastig hinzu. Dann rafften beide ihre Mäntel an sich und entflohen. Dass sie nie einen Hund besessen hatten, konnten meine "Eltern" ja nicht ahnen. 

Merkwürdig nur, dass an unserem Abendbrottisch so viele Leute plötzlich zu Tierbesitzern mutierten. Obwohl man zuvor so etwas aus dem Mund der holden Göttergattin vernommen hatte : “Ein Tier im Haus? Bewahre! All dieser Schmutz, und die ganzen Bakterien! Nein, ein Tier käme bei uns niemals in Frage!” 

So  “feierten” wir Silvester immer allein. 

Dazu gingen wir nach oben, in unseren “Bodenraum”. Der war nämlich das eigentliche Wohnzimmer. Soweit man bei diesem, mit ausrangierten Möbeln vollgestopften Raum davon reden konnte. Gemütlich war es da drin nie. Dafür sorgte schon diese wütend surrende Neonröhre unter der Decke, die so ein kränklich-bläuliches Licht verbreitete. 

Das eigentliche Wohnzimmer war unten. Es wurde nur an hohen Feiertagen (was immer das auch sein mochte) und wenn Besuch kam, benutzt. Wahrscheinlich hatten meine “Eltern” Angst, dass die Möbel sonst abnutzten. 

So hockten wir uns in diese Rumpelkammer, wo auch der Schwarzweiß-Fernseher stand. Muttern hatte hier oben festlich dekoriert. Glaubte sie jedenfalls. Mir kamen da eher die Tränen. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Jahr in Deutschland. 

“Komm, hilf mir, den Bodenraum zu dekorieren, heute Abend wollen wir feiern”, wies Muttern mich an. Ich wunderte mich, weil sie mir zu diesem Zweck eine Tüte mit bunten Papier-Luftschlangen in die Hand drückte. 

“So, jetzt hängst du Schlangen über die Stehlampe und an die Schrankgriffe. ICH mache den Tisch fertig!” 

Seltsam, die Sache musste  doch einen Haken haben, dachte ich und griff nach einer frischen Rolle Luftschlangen. Aha! 

“Doch nicht diiieee! Die sind doch noch ganz neu! Nimm erst mal die anderen!” Damit meinte Muttern die schon ausgebleichten bunten Papierringel, die sorgsam auf alten Garnrollen aufgewickelt waren. 

“Genau diese!”, erklärte sie, “und reiß ja nichts kaputt!  Die brauchen wir noch für nächstes Jahr!” 

Und ich überlegte, wie viele Jahrzehnte die Kippmann’schen Luftschlangen schon auf dem Buckel hatten. 

Auch Mutterns geschmückter Tisch hatte so gar nichts Festliches an sich. Zwei sich überkreuzende Luftschlangen, die in der Mitte den Wachsfleck von Vaterns Privat-Adventskranz gnädig verdeckten. Drei Wassergläser, neben denen drei Flaschen fade Limonade von Strate standen. Und natürlich - ganz wichtig - die Knabbersachen. Die erinnerten mich so fatal an Kishons Geschenkbonbonniere-Geschichte. 

Wie das? Ganz einfach: Muttern hatte, wie jede gute Hausfrau, Knabberzeug für Besuchsfälle im Haus. Nun kam aus bekannten Gründen sehr, sehr wenig Besuch zu uns. 

So blieb das Knabberzeug ziemlich unberührt. 

Sparsam, wie Muttern nun mal war, füllte sie die Salzstangen, die Erdnussflips oder die Fischli zurück in die Tüte, welche sie sorgsam mit einer Wäscheklammer verschloss. 

Bis zum nächsten Besuch. Dann kamen eben jene Salzstangen und Co. wieder im Schälchen auf den Tisch. 

Wer je so eine aufgeweichte Salzstange oder so ein schlabberiges Erdnussflip gegessen hat, greift bestimmt kein zweite Mal zu. Und die Sachen landen wieder in der Tüte … 

Auch an diesem Silvester tischte Muttern die Herrlichkeiten wieder auf. 

Ich habe bis dahin nie geglaubt, dass es schlaff herunter hängende Salzstangen gibt. Und das ebenso fade Silvesterprogramm im Ersten rundete diesen “gelungenen” Abend geschmackvoll ab. 

Aufgeputzte Gestalten im Abendkleid, Gesangseinlagen von Peter Alexander, Mireille Matthieu oder Heino, dazwischen hohles Blabla. 

Man kann ja über Geschmack streiten, man kann aber auch rausgehen. Ich habe das zweite vorgezogen. 

Mitternacht nahte - und damit der Abschuss von Vaterns heiliger Kanone. Erst stießen wir mit süßlich-klebrigem Billigsekt auf das Neue Jahr an, dann ging es nach draußen. 

Ächzend schleppte Vatern seine Kanone herbei, auf die eigens konstruierte (sh. Zeichenbrett) Abschussrampe mit exakt ausgerechnetem Abschusswinkel. 

Die Kanone wurde in Stellung gebracht und Vatern salutierte. Auf seinen Wehrmachtshelm hatte er wegen Mutterns weinerlichem Jammern verzichtet. “Was sollen denn die Leute sagen? Ach bitte, lass den Helm weg, was meinst du, was die Leute dazu sagen ...” Mutterns Silvester-Mantra. 

Obwohl ich kaum glaube, dass bei der ganzen Böllerei und den vielen Raketen irgendwem Vaterns seltsamer Kopfschmuck aufgefallen wäre. 

Auch Muttern und ich mussten strammstehen, auf das Salutieren verzichtete ich allerdings. Ich kam mir so schon furchtbar blöd vor. 

Vatern trat zu seiner in Stellung gebrachten Kanone, entzündete 
die Lunte, salutierte - und dann ging der gewaltige Püster los! 

Ohrenbetäubend, mit durchdringender Gewalt. 

Danach waren alle eine Zeitlang taub und wie erschlagen.  Erst nach und nach drangen die entsetzten Rufe der anderen “Feuerwerker” durch diesen rauschenden Nebel. 

Die Leute vermuteten einen schlimmen Unfall durch eine ungeplante Explosion.  

So verkehrt war das gar nicht. Überall in der Umgebung waren so seltsame Bleikugeln niedergegangen, von denen niemand sich erklären konnte, wo die her kamen. 

Auch die oberen Fensterscheiben im Haus gegenüber gingen zu Bruch. 

Das wurde aber erst am nächsten Morgen entdeckt, und die Polizei fuhr herum, um Leute zu befragen. Nur einige wunderten sich, warum wirklich jedes Jahr in genau der Gegend die Fensterscheiben immer kaputt gingen. 

Ob wirklich niemand etwas geahnt hat?


Hochgeladen von schmauchbrueder am 30.06.2007

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