Montag, 29. Oktober 2012

Das Ritual mit der Tante - Blog von Kiat Gorina


Nicht nur Weihnachten war bei meinen "deutschen Eltern" eine seltsame Angelegenheit. Fast noch mehr gefürchtet - jedenfalls von mir - war der Besuch von Tante Marianne. 

Da komme ich arglos nach Hause, und werde von Mutterns Alarmgeheul aufgeschreckt: "Tante Marianne kommt! Los, alles putzen, aufräumen  ... - Himmel, wo ist denn nur die Wärmflasche?" 

Jedesmal dasselbe Theater. Irgendwie kam ich mir vor wie in einem Film von Loriot. Nur, dass dies hier echt war. Und nicht unbedingt zum Lachen. Diesmal kam sie sogar mit ihrem Mann. Weil in Steinheim in dem großen Jäger- und Landhausmode-Geschäft Ausverkauf war. 

Aus Platzgründen fuhren wir mit zwei Autos. Und dann ging es rund: "Kaufen! Haben! Mehr!", signalisierten  die Gesichter. Und mir kam das Lied von Reinhard Mey "Die heiße Schlacht am kalten Buffet" in den Sinn. 


Hochgeladen von herrpohl am 21.06.2007

Waren die jetzt alle verrückt geworden? So viele Lodenjacken und -mäntel brauchte doch keiner! Dann ging es weiter zu den Lederjacken - und ich brüllte bei dem Anblick los, vor Lachen! 

Beide, Onkel und Tante waren etwas kurz geraten. Ja, die waren sogar noch kleiner als ich. So etwa 1,5o Meter groß. Und mindestens genauso breit! 

Bei einer solchen Figur boten sich diese Lederjacken geradezu an: sehr breit und geräumig bis unter die Rippen, dann kam ein etwa 30 Zentimeter breiter enger Schlauch bis zur Taille. Bei hochgewachsenen schlanken Leuten sah das bestimmt nicht schlecht aus. Aber hier? 

Weil ich dauernd die Tante anschauen musste, überrannte ich sogar eine (schlanke) Modellpuppe. 


Tante Mariane
Man stelle sich vor: halbhohe breite Winterstiefel, dann eine Handbreit pralle Waden, dann zwei Handbreit Faltenrock, dann der Lederschlauch. Und darüber erweiterte sich das Ganze auf Heißluftballon-Dimensionen. 
Ach ja, und oben aus der Lederrüstung schaute ein eher kleiner dauergewellter Kopf. 

Eilig stellte ich die Puppe wieder auf und wollte das Weite suchen. Aber: "Kriemhild, hilf mir mal!" Das war Vatern. Auch er konnte sich wohl nicht von diesem Anblick trennen und hatte die Puppe zum zweiten Mal niedergestreckt. 

Wir stellten das hagere Gerippe wieder in die Senkrechte und suchten das Weite. 

Das war der ereignisreiche, weil etwas andere Vormittag. Nun nahte das übliche Ritual: vor dem Mittagessen baute Tante Marianne eine ganze Reihe von Pillenschachteln vor sich auf. 

Und Muttern eilte, um ihr das benötigte Mineralwasser (natürlich eine ganz spezielle Marke, extra für Tante besogt!) zu kredenzen. Feierlich wurde Pille für Pille eingenommen und den ergeben lauschenden Zuhörern Sinn und Zweck derselben vorgetragen. Die Gute musste wohl ihr Gesundheitslexikon auswendig gelernt haben. Ich hatte gar nicht gewusst, was für bedrohliche Krankheiten ringsum auf der Lauer liegen. Mir kam eher der Verdacht, die Tante hat eine Pillenvergiftung. 

Nach dem Essen trat die Wärmflasche in Aktion. Die wurde von der Tante, der gefährlichen Keime wegen, immer erst mit einem Sagrotan-Tuch abgerieben. 

Dann geleiteten meine "Eltern" die Tante ins Wohnzimmer, wo sie geruhte, sich auf dem Sofa niederzulegen, die keimfreie Wärmflasche auf dem Bauch, mit einem frisch bezogenen Kissen unter dem Kopf und einer eigens mitgebrachten Flauschdecke über dem ganzen Aufbau. 

Meine Eltern nahmen in den Sesseln Platz und schauten der Tante andächtig beim Mittagsschlaf zu. 

Einmal habe ich gewagt zu fragen, warum sie da so sitzen. 

Die Antwort habe ich bis heute nicht begriffen: "Tante Marianne ist etwas ganz Besonderes. Sie hat Goldbarren auf der Bank und besitzt einen Brillantring!" 

Und solche Klunker machen einen "besonderen" Menschen aus?


Hochgeladen von todscorpion am 19.09.2010

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