Sonntag, 16. Dezember 2012

Dort vor der Kaserne, vor dem großen Tor - Blog von Kiat Gorina


Nein, ich will ganz sicher nicht Lily Marleen kopieren. Das ginge nämlich gründlich schief! Mir war nur Vaterns peinlicher Auftritt vor der britischen Kaserne am Klüter Berg in Detmold wieder eingefallen. 

Es war ein regnerischer Novemberabend. Die Vorlesung in Lebensmittelchemie war zu Ende, und ich freute mich schon auf die Kavalleriepferde in der Klüter Kaserne. Welches Pferd würde ich diesmal bekommen? Dinder, den Riesen mit fast zwei Meter Widerristhöhe? Oder meine heiß geliebte Caroline? Die Stute galt als zickig und störrisch, aber davon habe ich nie etwas bemerkt. Bei ihrer Rückenhöhe knapp über 1,70 m kam ich mir nicht so verloren vor, und wir kamen gut miteinander aus. 

Verflixt, ich war schon spät dran, dazu der abendliche Berufsverkehr. Und dieser blöde Nieselregen. Ich fuhr einen uralten Käfer, den ich knallrot angemalt hatte. Ich bin eher klein geraten, Herbies Sitze waren ausgeleiert, so hatte ich das Lenkrad auch noch vor der Nase. Da musste ich immer hindurch peilen, um die Straße zu sehen. Dass bei der Höhe und dem Regen alle Scheinwerfer von anderen Autos eklig blenden, kennt bestimmt jeder kleinere Fahrer. 

So zerfloss mir die Zeit zwischen den Fingern, die Reitstunde fing bald an, und ich trug noch nicht einmal meine alten ausgeleierten Armee-Reithosen und die grünen “Wellingtons” - Englische Gummistiefel. Na, da konnte ich mich ja auf jede Menge Liegestütze gefasst machen, die Methode des Corporal Majors, etwaige Disziplin- oder andere Verstöße zu ahnden. 

Uff, endlich angekommen. Durch das hohe schmiedeeiserne Tor in der roten Ziegelmauer bis zum Schlagbaum, dann kam die übliche Kontrolle. Zwei bewaffnete Soldaten mit ihren schwarzen Barretts bewachten die Einfahrt. Aussteigen und zum Wachraum. Indessen kontrollierten die Soldaten mit einem fahrbaren Spiegel die Auto-Unterseite. Danach war der Sprengstoffhund an der Reihe. Wegen des Sprengstoffanschlages auf eine amerikanische Disko im selben Jahr. 

Die Posten kannten mich zwar schon alle, aber Vorsicht ist allemal besser. Wieso ich da meinen Führerschein, aber nicht den Personalausweis vorzeigen musste, habe ich nie verstanden. Wo genau ich hin wollte, und weshalb, wurde genauestens protokolliert. Dann durfte ich endlich zum Stall weiter fahren. 

Dass ich offenbar verfolgt wurde, und das schon seit Lemgo, hatte ich in der ganzen Hektik gar nicht mitbekommen. 

In der riesigen Reithalle angekommen, fiel der ganze Alltagsstress einfach von mir ab. Es war, als ob der ganze sonstige Ärger vor dem Hallentor stecken blieb. 

Das wohlige Gefühl hielt an, trotz der Verspätungs-Liegestütz und dem mir zugeteilten Pferd. Ich hatte Dinder erwischt. 

Diese Armee-Pferde sind einfach Spitze! Gut erzogen, unerschrocken, und diszipliniert. 

Wo sonst kann man in einer Abteilung reiten, in allen Gangarten, und Gymnastikübungen auf dem Pferd machen. Die Zügel lagen dabei einfach auf den Pferdehälsen. 

Man stelle sich so etwas mal in einem Reitverein vor … das Chaos wäre vorprogrammiert. 

Wir übten dann für eine Quadrille. Das ist wie ein Uhrwerk. Alles muss bis ins Detail passen, sonst bricht die ganze Quadrille zusammen. 

Was sich in der Zeit am Kasernentor abspielte, berichteten mir die Soldaten später in allen Einzelheiten. 

Kurz nach mir bog nämlich ein grauer Mercedes ins Kasernentor ein und hielt vor dem Schlagbaum an. Der Fahrer hupte lang anhaltend und forderte die Posten mit herrischen Handbewegungen auf, den Schlagbaum zu öffnen. Was sie natürlich nicht taten. 

Die Kaserne war britisches Hoheitsgebiet, da hatte ein unbekannter Deutscher nichts zu befehlen. Die Posten müssen meinen Vater - um genau den handelte es sich nämlich - für verrückt gehalten haben. Leider nicht zu Unrecht. Irgendwie muss sich das Militär in seinem Altmännergehirn festgefressen - oder festgerostet? - haben. 

Diese frechen Soldaten wagten es, ihm, dem Wehrmachts-Oberfeuerwerker a. D. nicht zu gehorchen? Das ging zu weit! 

Er stieg aus dem Auto und pflanzte sich vor den erstaunten Posten auf: “Nehmen Sie gefälligst Haltung an! Ein solches Benehmen dulde ich nicht! Niedere Dienstgrade haben Unteroffiziere zu grüßen! Merken Sie sich das!” 

Übertrieben gerade, mit ins Hohlkreuz durchgebogenem Rücken, versuchte Vatern, militärische Würde zu verbreiten. Was ihm aber nicht gelang. 

Er war zwar relativ groß, aber sehr schmal und erinnerte irgendwie an eine verdorrte Kletterranke. Dazu kam seine dünne Krähstimme. 

Kurz, diese Figur passte nicht hierher und störte den Betrieb am Tor ganz gewaltig. Gerade jetzt kamen eine Menge Soldaten zur Kaserne zurück, die Einfahrt war blockiert, und die Autos stauten sich inzwischen bis zur Ampel am Klüter Berg. Auch von links wollten Autos ins Tor einbiegen, was aber nicht ging, wegen Vaterns Mecedes. 

Jetzt war die ganze Straße dicht, alles staute sich, weil es keine Extra-Abbiegespuren gab. Vor Vaterns “Attacke” waren die auch nicht nötig. 

Der Stau wurde länger und länger, das Hupkonzert der entnervten Autofahrer, der Nieselregen … 

Und alles nur, weil dieser lächerliche ältere Mann die Einfahrt blockierte. 

Die Engländer machten jetzt kurzen Prozess. Sie schoben Vaterns heilige Nobelkarosse einfach zur Seite. Der protestierte heftig gegen den vermeintlichen Raub seines Wagens und krähte nach der Polizei! 

Die war sowieso schon längst unterwegs. Der anfangs kleine Stau wuchs sich nämlich schon zum Verkehrschaos aus. 

Der löste sich ziemlich bald auf, als das eigentliche Hindernis beseitigt war, und die Soldatenautos endlich in die Kaserne abbiegen konnten. 

Was sich nicht auflöste, war Vaterns Wutanfall. Wer meinen Vater gekannt hat, und einen solchen Anfall womöglich mal mit erlebt hat, wird sich auch heute noch vor Grausen schütteln. 

Er keifte sich regelrecht in Rage, dabei schlug er windmühlenartig mit seinen langen dürren Armen um sich.  Das sah natürlich urkomisch aus, und man hatte Mühe, sich das Lachen zu verbeißen. Was den Alten nur noch mehr in Fahrt brachte. Erst schlug er auch auf alle erreichbaren Leute ein, dann auf alles, was in seine Reichweite geriet. 

So holten die britischen Posten eine deutsche Polizeistreife herein. Die sollte bitteschön diesen deutschen Verrückten vom britischen Hoheitsgebiet entfernen. 

Verständlich, schließlich gab es ja in dieser Kaserne keine Gummizelle. 

Schließlich gelang es den Polizisten, Vatern zu fassen und festzuhalten. Nun wollten sie wissen, was denn genau passiert war. Dass Vatern den gewaltigen Verkehrsstau ausgelöst hatte, wussten sie inzwischen. Aber was wollte er in der englischen Kaserne? 

Vatern, noch immer im Griff der Polizisten, reckte seine Brust und machte “Meldung” : “Oberfeuerwerker Adolf Kippmann meldet gehorsamst: meine Tochter befindet sich auf diesem Gelände. Nach meiner Information geht dieses Luder dort der Prostitution nach! Das will und werde ich unterbinden!” 

Sie werden hier gar nichts unterbinden, haben Sie mich verstanden? Wie kommen Sie darauf, Ihre Tochter sei eine Nutte? Haben Sie Beweise dafür? Hat sie das Gewerbe angemeldet?” 

Hier mischte sich ein britischer Offizier ein: “Das hier ist die Kaserne der Royal Household Cavalry. Wenn Sie ernsthaft behaupten wollen, hier sei die Prostitution gestattet, werden Sie sehr große Schwierigkeiten bekommen. Wir lassen unseren guten Ruf nicht besudeln.” 

Dieser Offizier sprach ein perfektes, geschliffenes Deutsch, dem keinerlei Emotion anzumerken war. 

“Darf ich fragen, ob Frau Kippmann sich hier in der Kaserne aufhält?”, erkundigte sich ein Polizist vorsichtig, “und könnten wir sie vielleicht kurz sprechen?” 

Das war möglich, und so begleitete ein Soldat einen der Polizisten zur Reithalle. 

Dort musste der arme Kerl noch warten, bis wir die ganze Quadrille zur Zufriedenheit des Corporal Majors reiten konnten. Auch dann hatte ich noch keine Zeit. Zuerst musste ich Dinder ordentlich versorgen. 

In ängstlichem Abstand folgte der Polizist den riesigen Pferden. Wenn man solche Riesenrösser nicht gewohnt ist, wirken sie ziemlich einschüchternd. Er hatte es eilig, wollte hier heraus und zu seinem Kollegen zurück. Nun darf sich ein deutscher Polizist nicht einfach so in einer britschen Kaserne bewegen. Also musste er warten. 

Ich “kämpfte” derweil mit Dinders “Abendgarderobe”. Die Armeepferde waren nämlich geschoren, und wurden deshalb eingedeckt. Auch das war eine Wissenschaft für sich: 

erst kam eine flauschige gelb-schwarz rot gemusterte Decke auf Dinders Rücken. Die wurde genauestens nach Militärvorschrift gefaltet. Decke vollkommen gerade und faltenfrei auf Hals und Rücken, dann vorne die Deckenenden zum Dreieck falten und auf dem Hals liegen lassen. Darüber kam eine verdammt schwere und sperrige Jutedecke. Die wurde vorn geschlossen, das gelb-schwarz-rote Deckendreieck darüber nach hinten geklappt und dann alles mit einem Deckengurt festgezurrt. Ganz einfach, ja? Eigentlich schon, nur dass mein Pferd eben eine Rückenhöhe von zwei Metern hatte. Ich habe die Pferde immer seitlich zur steinernen Futterkrippe gestellt. So konnte ich auf die Krippe turnen, was die ganze Operation sehr vereinfachte. 

Eigentlich wollte ich den Polizisten überreden, mir zu helfen, aber der war ganz plötzlich taub geworden. 

Dass auch das Sattelzeug nach dem Reiten militärisch akkurat geputzt und verstaut wurde, versteht sich wohl von selbst. Wer diesen ganzen Ablauf nicht kennt, steht furchtbar dumm herum und allen anderen im Weg. 

Der Polizist hatte dann keine Fragen mehr an mich. Diese Militärmaschinerie hatte so gar nichts Nuttenhaftes an sich. Einziges Nachspiel:  Vatern wurde strengstens dazu ermahnt, sich von der Kaserne fern zu halten!


Hochgeladen von Andrew Kelsall am 2007.06.18
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